Hallo liebe Gemeinde.
Mein erster Beitrag hier:
Von den Schwiegereltern für unsere Kinder ein insect lore/Schmetterlingsgarten Set bekommen.
Zunächst eine gute Idee in der Zeit des Corona-Lockdown. Nachdem ich mich hier im kleinen Umfang eingelesen habe weiß ich nun, dass diese Sets keine artgerechte Haltung bieten. Eine nach der anderen Puppe landete im Matsch. Am Ende hingen nur noch zwei an den Deckeln. Die abgestürzten der Anleitung entsprechend in das Habitat gelegt.
Das Schicksal in Zahlen:
- eine tote, bereits hängende Raupe, unverpuppt
- eine verletzte Puppe, der Falter schaffte es beim Schlüpfen nicht, sich zu befreien
- drei deformierte Falter, alle flugunfähig, einer mit geteiltem Rüssel (auf den komme ich noch zurück)
- fünf haben es auf eine blühende Wiese im Schwarzwald geschafft
Beim Aussetzen bemerkt, dass zwei nicht fliegen können. Diese beiden durften also wieder mitkommen in die Wohnung. (Der arme Kerl mit dem geteilten Rüssel ist zu Hause geblieben.)
So wohnen nun bei uns drei versehrte Schmetterlinge. Und nun zu meinem Problem: diese zwei, die mit dem gesunden Rüssel, die haben sich gestern Abend gepaart.
- Ab wann nach der Paarung, wenn überhaupt, ist mit der Eiablage zu rechnen?
- Welche Pflanze stelle ich den Faltern zur Verfügung? Distel? Brennessel? Im Topf mit Erde oder im Wasserglas?
- Wann ist mit dem Schlüpfen der Raupen zu rechnen?
- Welche Bedingungen sollte ich sicherstellen?
Und dann, nun ja, dann gibt es noch den anderen. Von dem möchte ich Euch kurz erzählen: Kriechbaum.
Kriechbaum ist einer von denen, deren abgestürzte Puppen ich nach "Anleitung" im Habitat an den Rand gelegt habe. Beim Schlüpfen hat er sich leider in dem Maschengewebe verfangen. So da liegend sind ihm die Flügel getrocknet. Die Fühler sind ihm an den Machen verbogen und die Rüsselhälften hat er wie gesagt nicht zusammen bekommen. Er konnte sich auch nicht vollständig aus der Puppe befreien und hing mit dem Hinterteil noch lange in der Schale. Dahinein musste er sein Mekonium entlehren und ist danach mit den Hinterteil immer wieder irgendwo kleben geblieben. Ich habe ihn mehrmals vom Gewebe des Habitats lösen müssen. Eine derbe Behandlung. Außerdem keine Nahrung für mehrere Tage.
Kriechbaum scheint allerdings ein ein zäher Kerl zu sein. (Oder ist er eine sie? In meiner Vorstellung ist Kriechbaum jedenfalls ein männlicher Falter.)
Mittlerweile hat er sein eigenes Habitat bekommen in einer Plastikdose ausgelegt mit Zellstoff, ein paar Steinen und einem trockenen Stück Holz. Ein kleiner Bogen aus Pappe (Klopapierrolle) überdacht zwei drittel des Habitats. Tatsächlich scheint sich Falter Kriechbaum gerne darunter zu verstecken. Wenn er sich sonnt, dann hockt er immer an der selben Stelle außerhalb der Überdachung, immer mit einem Bein auf immer demselben Stein.
Es hat mich sehr überrascht, wie lange der Falter die Strapazen mit derlei Beeinträchtigungen überlebt. Ich habe ihn beobachtet, mir Gedanken gemacht, mich um ihn gesorgt und Mitgefühl entwickelt. Immer apathischer ist er mit der Zeit geworden. Da habe ich begonnen "mit" ihm zu reden. Habe ihm meine Sorgen und meine Ratlosigkeit mitgeteilt. Und dann hat er einen Namen bekommen:
Es ist nun so, dass sich das Kerlchen füttern lässt. Ich hätte es nicht geglaubt, musste es aber einfach ausprobieren. Über eine lange Kanüle tröpfchenweise Glukosewasser zwischen die Rüsselhälften. Ein Hoch auf die Kapilarwirkung!
Beim ersten Versuch ist er einfach hocken geblieben, hat kaum eine Regung oder Abwehr gezeigt als ich mit dem Besteck an ihm rumgefuhrwerkt habe. Aber als ein Tropfen der Süßigkeit einen seiner "Schmeckfüßchen" berührte... meine Güte... da war Leben in dem Tier! Plötzlich wirkter er völlig aufgeregt, griff und klammerte mit seinen Beinen nach der Kanüle, tastete mit seinen Fühlern und streckte sich mit einem solchem Willen nach der Quelle! Und dann hat er geschlürft und geschlürft und lang nicht aufgehört und ist dabei ganz ruhig geworden. Ich kann es nur so beschreiben. Diese plötzlich einsetzende Vehemenz und dieser "Wille"! Diese Klarheit im Ausdruck seines tuns, nämlich: "Genau das brauche ich jetzt! Unbedingt! Genau das! Jetzt!"
Auf einmal fand ich mich in einer Situation wieder, in der ich nicht mehr nur beobachtete, nicht mehr nur eine Handlung an etwas durchführte sondern in der ich mit einem lebendigen Wesen interagierte. Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Bei einem Insekt! Und auch nicht mit solchen Gefühlen. Rührung, Freude, Erleichterung, Sorge, Mitgefühl, Trauer und ganz, ganz großes Staunen.
So ist also diese Exemplar für mich zu einer Person geworden und hat einen Namen bekommen. Und so füttere ich nun jeden Tag einen Falter namens Kriechbaum tröpfchenweise mit Zuckerwasser. Anfangs immer noch mit großer Aufregung und Gezappel und Geklammer und Getaste und dann, langsam, mit zunehmender Ruhe... schlürf, schlürf... kurze Pause... schlürf, schlürf... Flügel auf und wieder zu... schlürf, schlürf... Flügel auf... zu... schlürf, schlürf...
Kriechbaum darf solange bei uns bleiben wie er kann und er wird gefüttert werden so lange es geht. Ich lasse mich von ihm berühren und freue mich über ihn, solange er da ist und ich werde traurig sein, wenn er stirbt. So ist das.
Kriechbaum grüßt.